Von der Einfühlung

Ein großes Wort: Einfühlung. Wir verlangen Empathie schon von kleinen Kindern, die andere nicht hauen oder mit Worten verletzen sollen; und sind doch oft selbst so unfähig dazu, uns in andere Menschen wirklich einzufühlen.

In letzter Zeit beschäftigt es mich immer wieder, wie ich Freunden begegne, denen es schlecht geht, oder kleinen und großen Menschen, die traurig sind. Ich merke, wie meistens sofort die Maschinerie in meinem Kopf los geht: da ist jemand traurig/ verletzt/ depressiv – ich muss Rat geben, Kummer abwenden, helfen, Probleme am besten sofort lösen oder zumindest zur Lösung beitragen.

Dabei ist das, was die meisten Menschen brauchen, die traurig oder unglücklich sind, dass jemand einfach da ist und zuhört. Dazu braucht es gar keine Worte. Es braucht nicht Lösungen und Rat, darauf muss der Betroffene sowieso selbst kommen. Ein trauriger Mensch braucht erstmal einfach nur Trost und uneingeschränkte Aufmerksamkeit.

Bei Marshall B. Rosenberg habe ich Gedanken zur Einfühlung und Empathie gefunden, die mich sehr zum Nachdenken anregen.

Wenn wir Einfühlung geben, dann geht es darum, einfach ganz und gar präsent zu sein, im Moment zu sein. (…) Alles, was aus der Vergangenheit in den Moment gebracht wird, blockiert die Empathie.

Das Wichstigste ist, dass wir Empathie nicht mit intellektuellem Verstehen verwechseln oder mit Mitleid. Wenn ich jemandem zuhöre, dem es schlecht geht und dann sage: „Das macht mich ganz traurig, dass es dir schlecht geht“, dann ist das Mitleid. Empathie heißt, dass ich mich nicht mit meinen Gefühlen verbinde, sondern mit den Gefühlen der anderen Person.

Wir schenken unsere Aufmerksamkeit voll und ganz der anderen Person. Wir denken nicht darüber nach, wie wir das finden, was der andere gesagt hat. Denn wenn wir einer Person Einfühlung geben, dann geht es uns nicht darum, was sie denkt, was übrigens nicht bedeutet, dass wir zustimmen. Wenn wir dem zustimmen, was die andere Person sagt, dann ist es nicht mehr Empathie.

Marshall B. Rosenberg

Die Unterscheidung zwischen Empathie und Mitleid ist für mich ganz neu, und besonders wichtig scheint mir der Unterschied zwischen Einfühlung und Zustimmung. Wenn ein Kind weint, weil es nicht das bekommen kann, was es möchte oder weil es mit jemandem einen Konflikt hat, dann ist die moralische Wertung darüber, ob ich den Grund des Weinens für richtig halte, völlig irrelevant. Zunächst geht es um Empathie mit einem weinenden Menschen. Wer recht hat oder was vorgefallen ist, ist gar nicht wichtig.

Komisch, dass wir im Alltag so oft dazu neigen, sofort zu bewerten: der eine Schmerz „verdient“ lautes Weinen; der andere Schmerz ist von außen gesehen doch gar nicht so schlimm…

Diese Annahme, dass Empathie nur im Jetzt statt findet – weder zurück blickt noch nach vorn, ist für mich ein ganz wesentlicher, aber ungewohnter Gedanke.

Ich gehe nicht mit in die Kindheit, das ist Vergangenheit. Empathie findet immer im Jetzt statt. Viele Leute denken, dass sie die ganze Geschichte erzählen müssen, um Empathie zu bekommen. Das liegt daran, dass sie nicht wissen, was Empathie ist; sie denken, damit ich sie verstehen kann, muss ich wissen, was passiert ist. Aber ich gehe nie mit in die Vergangenheit, wenn ich Einfühlung gebe. Ich höre nicht die Geschichten und Gedanken, ich verbinde mich mit dem, was in diesem Moment lebendig ist. Und das kann ich im Stillen tun. Eigentlich brauche ich für Empathie keine Worte.

Empathie findet in der Gegenwart statt. Wir unterbrechen den Fluss der einfühlenden Verbindung jedes Mal, wenn wir aus der Präsenz gehen, wenn wir weg von dem, was jetzt ist, in die Zukunft oder zu Lösungen gehen.

Marshall B. Rosenberg

 

Wieso ist das Muster in uns so ausgeprägt, auf jemanden, der Kummer, Angst oder Wut ausdrückt, sofort mit Ratschlägen und „Lösungen“ zu reagieren? Wieso halten wir Weinen, Traurigkeit, Hilflosigkeit so schwer aus? Warum wollen wir genau wissen, was bei einem Konflikt passiert ist, bevor wir einem Kind Trost spenden?

Trösten im herkömmlichen Sinne meint oft: die Traurigkeit, das Weinen abschalten, weil man als Gegenüber hilflos ist – Trösten im Sinne von einfach da sein, weinen lassen, traurig sein lassen fällt uns allen oft sehr schwer.

Dass ich, um Empathie geben zu können, jede Bewertung in mir abschalten muss, ist eine weitere Grundlage der Gewaltfreien Kommunikation, die ich als schwieriger empfinde als ich dachte. So sehr ich mich bemühe, es gibt zu jedem Gesagten oder Beobachteten in meinem Kopf fast immer automatisch ein Urteil, eine Bewertung dazu. Im Zusammenhang mit Kindern bemühe ich mich seit längerem sehr darum, das abzustellen, genauer hinzuschauen, was in einem Konflikt passiert oder warum ein Kind etwas tut. Aber die wertende Instanz in mir ist offenbar sehr ausgeprägt.

Noch schwieriger als Einfühlung ohne Wertung für andere ist Einfühlung ohne Bewertung für mich selbst. Wie oft misslingt mir etwas, und anstatt einfach zu sagen: „Ach schade, das mache ich beim nächsten Mal besser“ beginnt in mir eine Litanei der Vorwürfe, und „Hätte ich doch..“, „Wie kann man nur…“ usw. Das beobachte ich auch bei vielen Menschen um mich herum, diesen Hang zur Selbstzerfleischung. Wie gut wäre es, wenn man es schaffen könnte, einen vermeintlichen Fehler einfach als das zu sehen, was er ist, eine Chance, es beim nächsten Mal anders zu versuchen.

Auf die Frage, wie man bei sich selbst diese lang antrainierten Muster von Urteilen und Bewerten verändern und sich mit seinen eigenen und anderen Gefühlen und Bedürfnissen verbinden kann, antwortet Rosenberg:

Mit Hilfe von Selbsteinfühlung. (…) Wir haben bereits als Kind gelernt, unser eigenes Verhalten streng nach moralischen Grundsätzen zu beurteilen: Richtig, falsch, gut, böse. Anstatt uns selbst gegenüber einfühlend zu sein, haben wir gelernt, uns Vorwürfe zu machen. (…) Um dieses ganze Muster zu verändern, fangen wir bei uns selber an. Wir transformieren uns selbst in ein lebensbejahendes System, ohne Vorwürfe, ohne Strafe, ohne Scham, ohne Schuld.

Wenn mein innerer Richter eine lebensfreundliche Erziehung genossen hätte, dann würde er mein Verhalten aufmerksam verfolgen, und wenn er sehen würde, dass ich etwas tue, was an meinen Bedürfnissen vorbei geht, würde er fragen: „Dient das, was du da tust, dem Leben?“ Wenn nicht, dann würde er fragen: „Was könntest du tun, um einen effektiveren Weg zu finden, der dich weniger kostet?“ Dann würde ich mir keine Vorwürfe machen und nicht denken, dass ich etwas falsch gemacht habe. Ich würde auch nicht denken, dass ich etwas richtig gemacht habe. Es ist doch so: Je mehr wir alles in unserem Kopf analysieren, desto weniger leben wir.

Marshall B. Rosenberg

 

Freundlich und einfühlend zu mir selbst zu sein ist wahrscheinlich eine wichtige Voraussetzung dafür, freundlich und einfühlend auch zu Menschen zu sein, deren Verhalten mir zunächst absurd, verletzend oder boshaft erscheint. Einfühlend zu sein, bedeutet aber nicht, jedes Verhalten zu rechtfertigen oder das richtig zu finden, was der andere sagt. Das ist für mich ein wesentlicher Impuls.

Die Erinnerung daran, dass jeder Mensch durch sein Handeln versucht, ein Bedürfnis zu erfüllen, hilft mir persönlich dabei, auch in schwierigen Situationen einfühlender zu sein – wenn auch leider oft erst nach der eigentlichen Situation..

 

Wie geht es euch damit? Gelingt es euch einfühlend zu sein, auch wenn ihr ein Verhalten überhaupt nicht nachvollziehen könnt? Und wie ist es mit der Einfühlung ohne Bewertung für euch selbst?

Herzlich, Katharina

 

Zitate aus: Marshall M. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. Ein Gespräch mit Gabiele Seils. 15. Auflage 2012.

 

 

 

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. Michel sagt:

    Hallo Katharina
    Der Artikel ist super geschrieben, lässt sich sehr gut lesen.
    Das mit der Empathie ist leider gar nicht so einfach. Sich damit zu beschäftigen finde ich persönlich aber sehr wichtig und versuche es auch oft umzusetzen. Leider gelingt mir das nicht immer, da es je nach Situation ziemlich schwer ist, bzw es einem die andere Person auch nicht gerade leicht macht. Dennoch, immer das möglichste versuchen. 🙂
    Ich wünsche dir ein schönes Wochenende
    Lg Michel

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  2. Hallo Katharina, es freut mich, dass du weiterhin dran bist an der gewaltfreien Kommunikation!
    Ich finde es besonders schwierig, dass man mit Kindern immer in zwei Richtungen denken muss, wenn es um Emphathie geht: was braucht mein Kind gerade und was brauche ich? Mir gelingt, wenn überhaupt, meist nur eine Perspektive. Aber das ist ja immerhin schon mal etwas!
    Das wichtigste bei allem ist, glaube ich, immer die Grundhaltung, mit der ich auf mein Kind schaue: bockt es rum und macht Theater, weil Kinder nun mal so sind? Oder drückt es gerade seine Gefühle und Bedürfnisse aus, so gut wie es das eben jetzt gerade kann? Mich berührt immer wieder dieser Satz: „Wenn wir vollkommen an unser Kind glauben, vertrauen wir darauf, dass es in jedem Augenblick sein Allerbestes tut – seinem Alter, seiner Erfahrung und den Umständen entsprechend.“ (Jan Hunt, Mensch Kind) Ich bin inzwischen fest überzeugt davon, dass das stimmt!
    In diesem Sinne: viel Freude bei weiteren Entdeckungen! Liebe Grüße, Katja

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